Der See

Mein Freund,

als ich dich zum ersten Mal bewusst sah, war ich klein. Kleiner, als ich es heute bin. Mein Vater trug mich an einem Frühlingstag auf seinen Schultern in dich. Er ging über groben Kies mit tänzelnden Schritten auf dich zu. Ich wunderte mich, warum er es so spielerisch tat, bis ich Jahre später nach vielen kalten Monaten meine Schuhe zum ersten Mal auszog und mit nackten Füßen an derselben Stelle über denselben Kies schritt. Meine Sohlen waren blass, zart, empfindlich. Ich setzte sie behutsam auf die sonnenwarmen Steine, versuchte die Schwere aus mir zu nehmen. Ich tänzelte. Und lachte. Und ging in dich.

Seit diesem ersten Einswerden begegne ich dir mit diesem Lächeln.

Auch mein Großvater begegnete dir immer in heiterer Demut. Er stand vor dir, sog deinen Duft ein, sah über deine Weite, erinnerte sich, seufzte, lächelte und nahm meine kleine Hand in seine große Hand. Er wandte sich mir zu und sagte mit leiser Stimme

„Das ist nicht unser See. Wir aber sind seine Menschen.“

Das erschien mir von Anfang an selbstverständlich. Du bist größer als wir es sind. Wir leben von dir, nicht du von uns. Die Luft, die über dich streicht, die Wärme, die aus dir strömt, deine Feuchte, die sich fruchtbar auf unsere Äcker und in unsere Gärten legt – all das bist du, der sich mit uns teilt.

Eines Tages erlebte ich dich zum ersten Mal aufgebracht. Ich fuhr mit einem Ruderboot in deine Mitte, legte mich in die Plicht und beobachtete das Wolkenspiel über dir. Dann schlief ich ein und verlor mich in dir. Als mich deine Unruhe weckte, hob ich meinen Kopf über die Bordwand und erschrak über deine Wesensänderung. Dein Leib wurde dunkel, deine Kraft unbändig. Du triebst mich über dich, warfst mich zwischen deine Wellen. Ich sah auf deinen Grund. Du schriest mich an wie ein verletztes Tier. Aber das war nur mein Gefühl. Du bist frei von solchen Dingen. Du tust, was in dir, um dich und mit dir ist. Du tust nichts, was frei von Sinn wäre. Und trotzdem ist nichts absichtlich, was in dir ist.

Du bist frei.

Du bist mir ein wunderbarer Freund geworden. Du erfrischst mich im Sommer, wenn du deine Wogen über mich schlägst. Du beruhigst mich, wenn ich mich im Herbst tief in mein Schwarz verliere. Du trägst mich im Winter, wenn ich im großen Weiß auf dir gehe. Du erfüllst mich mit deinem Duft, wenn ich im Frühling endlich wieder meine Lungen tief mit dir füllen darf.

Auf diese Weise liebe ich dich.


Nikolaus Eberstaller